Paul und Nomo Paul stand vor der Türe des altmodischen
Tübinger Cafes. Da sah er Nomo die Straße entlangkommen. Hallo, altes Haus,
rief er schon von weitem. Kurz darauf umarmte er Paul fest. Von Nomo wieder
gelöst, sagte Paul knapp: hallo. Sie gingen in das Cafe. Die Einrichtung
war im Stil der 20er Jahre gehalten; in der Mitte war der dunkelgrün gehaltene
Raum geteilt. In der Zwischenwand befand sich ein großes, mit Holz
ausgeschlagenes Loch. Sah man hindurch, konnte man auf den ersten Blick einen
Spiegel vermuten, da die Tische und Stühle, so keine Leute daran saßen,
dermaßen symmetrisch angeordnet waren. Sie hängten die Jacken an die Haken und
setzten sich an ein kleines Tischchen am vermeintlichen Spiegel. Paul hatte
hinter Nomos Rücken Theke und Türe im Blick. So sah er das blonde Mädchen mit
dem Pferdeschwanz und den grünen Augen auf sie zukommen; sie hatte sehr feine,
weiche Gesichtszüge, sie war schön. Beide bestellten bei ihr einen
Apfelkuchen mit Sahne und einen großen Milchkaffee. Nomo erzählte, er sei krank
gewesen, vereiterte Nebenhöhlen. Das kam selten vor bei ihm. Wenig Schlaf,
laute Discos, Besäufnisse – allesamt Zumutungen aus Pauls Sicht – konnten ihm
wenig anhaben. Und jetzt hatte er die Vereiterung mit Antibiotika behandelt; in
ein paar Tagen wollte er schließlich zu einer Freizeit des evangelischen
Jugendwerks, wo er sich als Leiter gemeldet hatte. He Paul, und was machst du
noch, bis das Semester anfängt? rief Nomo. Der Angesprochene meinte, das wisse
er noch nicht so genau. Vielleicht mache er noch mit Verwandten eine Radtour. Das Mädchen mit den grünen Augen und dem
blonden Pferdeschwanz brachte Kaffee und Kuchen, stellte alles auf den Tisch;
sie lächelte ein bißchen verlegen, wünschte guten Appetit. Der Kuchen begann
mit einem dünnen Mürbteigboden, worauf die Apfelstücke mit Rosinen und
Nußsplittern folgten; daneben lag ein großer Schwung Sahne. Fast gleichzeitig
hatten sie ein Stück in Sahne getauchten Kuchen auf der Gabel und schoben es in
die Münder. Mundet gar köstlich, werther Freund, sprach Paul. Gewiß, mein
Teuerster, erwiderte Nomo, und wenn dann erst noch der mit Milch und Zucker
verfeinerte Kaffeeduft den Gaumen kitzelt, so ist der Genuß ein Vollkommener.
Die Verfeinerung nahm er vor, indem er den Zuckerstreuer heftig auf und ab
schüttelte, zahlreiche Kreise auf dem mehr und mehr einsackenden Milchschaum
beschreibend. Paul trank derweil, fühlte das Getränk über die Zunge, durch den
Hals in den Magen rinnen, überall auf seinem Weg Wärme verteilend. Über der
Oberlippe hatte Paul einen Milchbart. Nomo erzählte von einem Referat, für das
er sich unter anderem mit dem Romantikertreffen beschäftige. Die Romantik, die
mochten sie beide. Nomo hatte einmal gesagt - und damit auch für Paul
gesprochen – er nehme zumindest den Frühromantikern ab, aufrichtig Empfundenes
dargestellt zu haben. Eine solche Naivität und Natürlichkeit war für beide
etwas Großes. Nomo rezitierte ein Gedicht aus Eichendorffs “Ahnung und
Gegenwart”, theatralisch wie ein Schauspieler. Paul genoß den Klang; das Zuhören
war ihm viel lieber als stockendes Vortragen. Paul studierte seit ein paar Semestern
Theologie in Tübingen, hatte zugleich mit Nomo angefangen – den er zuvor noch
nicht kannte. Nomo war als Jungscharleiter, als Sänger im Kirchenchor und
Kabarettist bei Gemeindefesten kirchlich engagiert gewesen. Während dem
Zivildienst und jetzt als Student knüpfte er daran an. Wieder war er bald
beliebt mit seiner Energie, seinem Humor. Und ging eine Partnerschaft
auseinander, so brauchte er nicht lange ohne Freundin zu sein. Paul kam aus einer pietistischen
Gemeinde, war in einem Hauskreis gewesen. Der war ihm ebenso fremd geblieben
wie der Chor, in dem er sich eine Zeitlang versucht hatte. Er sang gerne, viele
mochten seine Stimme; er mochte auch die Kirchenmusik. Sie hatte manchmal etwas
Reines, so Wahres, schien ihm so souverän über kirchlichen Kleinkariertheiten
zu stehen. An der Musik lag es also nicht. Es lag an den Leuten, mit denen er
nichts anfangen konnte. So war er meist einsam, auch wenn er
äußerlich irgendwo mitmachte, so etwa in der Jungschar. Und er war
nachdenklich. Das Nachdenken, Grübeln bot sich ja auch an in seiner Lage. Der
Gemeindepfarrer war auf sein Sinnieren aufmerksam geworden. In einem Alter, in
dem sonst Mädchen, Mofa und Musik am wichtigsten sind. Überhaupt war er von
vielem lange abgeschnitten gewesen, wie er später verwundert feststellte. Von
Fernsehserien oder Popmusik. Von Feten, auf die er eigentlich gern wollte.
Dazugehören. Es gelang ihm nicht. Er war, und dieser Eindruck verfestigte sich
mehr und mehr bei ihm, nicht gefragt. Die anderen mussten eine Sprache haben,
die er nicht sprechen konnte. Der Gemeindepfarrer hatte ihn eines
Tages angesprochen: er könne sich Paul gut als Pfarrer vorstellen. Für
irgendwie religiös hielt sich Paul. Und einen Traumberuf gab es nicht für ihn,
dessen Interessen von einem Feld auf das nächste sprangen. Pfarrer war auch ein
sinnvoller Beruf, man konnte etwas bewirken. Warum also nicht? Paul glaubte
schon, daß es mehr gab als Materie, Zufall und Evolution. Dieses andere blieb
ihm jedoch stets vage, geheimnisvoll. Und das Christentum konnte ein Weg
dorthin sein, neben anderen Religionen. Wie auch die Bibel für ihn neben
anderen Büchern, Romanen, Gedichten stand. Er glaubte und hoffte bis jetzt, mit
dieser Auffassung, die sich allmählich bei ihm herausgebildet hatte, einen
Platz unter dem Dach der protestantischen Kirche zu finden. Diese Kirche fand
er auch notwendig; dass jeder seinen Privatglauben hatte oder dass es sehr
viele kleine Grüppchen gab, mit dieser Vorstellung konnte er sich nicht
anfreunden. Änderungen hielt er nur als Änderungen der Institution für
praktikabel, wenn er auch recht vieles für reformbedürftig hielt. Reformen
entsprachen seinem Wesen mehr als Revolutionen. Und ihm waren allgemein gültige
Regeln wichtig. Die Pharisäer hatten ihm immer wieder leid getan, weil sie so
schlecht wegkamen in der Bibel. Mühten sich, nach Gottes eigenen Regeln zu
leben und ernteten so viel Undank. Die Pharisäer taten ihm leid, weil er selber
einer von ihnen war. Zumindest gewesen war. Sich selber zurücknehmen,
Pflichtbewußtsein, Hilfsbereitschaft, Sorge um die Umwelt und die globale
Zukunft: das war nicht einfach falsch. Jedoch war es auch oft nicht das, was
ihm entsprach, was er suchte, was er wirklich wollte. Das von Jesus verheißene Leben in Fülle
war noch etwas anderes. Das Nomo hatte und den Paul, der selbst oft so weit weg
von diesem prallen Leben war, darum beneidete. Paul war zaghaft. Enthielt
dieses “Leben in Fülle” auch Gleichgültigkeit, Egoismus, Abgestumpftheit? War
es spießig, auf seine Gesundheit zu achten und den Müll zu trennen? Anderen zu
helfen? Die meisten in seiner Umgebung, stolz darauf, mit beiden Beinen fest
auf dem Boden zu stehen, erschienen ihm als Egoisten. Die die Umweltzerstörung
beklagten und eifrig forderten, der Mensch brauche eine ganz neue Ethik. Um
zehn Minuten später mit dem Cabrio im Stau zu stehen. Paul hatte sich in Rage geredet, Nomo
hatte ihm beigepflichtet. Nun schlug er vor, zu bezahlen und zu den sich
herbstlich verfärbenden Platanen auf der Neckarinsel zu gehen. Kaffee und
Kuchen hatten wohl gemundet, wie beide dem herbeigerufenen Mädchen versicherten
und ihr ein Trinkgeld gaben. Sich dann verabschiedeten. Paul lächelte ein wenig
dabei, was ihm erwidert wurde, worauf er noch mehr lächelte, diesmal jedoch in
sich hinein. Nomo war schon aufgestanden, Paul tat es ihm nach, griff nach
beider Jacken. Sie traten ins Freie. Es war bewölkt.
Und windig. Über die kleine Holzbrücke kamen sie zur Neuen Straße, die
Stiftskirche war sichtbar. Sie unterhielten sich über das hübsche Mädchen im
Café – Nomo gefiel sie auch. Glaubst Du, es gibt ein sozusagen angeborenes
Schönheitsideal, nach dem wir uns richten, fragte Paul. Weiß nicht so recht,
meinte Nomo. Wer ihm schon alles gefallen habe. Ob es da etwas Gemeinsames
gebe, fragte Paul, oder ob sich das eh nicht an Äußerlichkeiten festmachen
ließe. Gleich sich selber einschränkend: er meine ja nur diese spontane
Faszination, die er manchmal bei einem Mädchen habe, innerhalb von Sekunden; die
könne ja nur die Folge eines äußeren Eindrucks sein. Um auch diesen Satz gleich
wieder ins rechteLicht zurücken ergänzte er noch, dass für Liebe natürlich
anderes wichtiger und dauerhafter sei. Nomo erzählte, ihm seien äußere und
innere Werte gleichermaßen wichtig. Es fasziniere ihn an seiner Freundin
Sabine, dass sie hübsch und zugleich geistreich sei. Sie waren nun an der Stiftskirche vorbei
über die nach linksgewundene Neckargasse auf die Neckarbrücke gekommen. Auf der
verweilten sie ein wenig, im Blick hatten sie den majestätischen Hölderlinturm.
Nomo erzählte, er habe gerade Schwierigkeiten mit Sabine. Sie beklage sich, er
habe sowenig Zeit für sie, sei stattdessen soviel mit seinem Job bei einer
Werbeagentur, mit Theaterspielen und manch anderem beschäftigt. Sie wisse
nicht, wie das weitergehen solle. Zugleich hing sie an ihm, das wusste Paul, sie
mochte gerade seinen Witz, seine unbändige Kraft; sie schätzte, dass er fast
stets das tat, was er wollte, was zu ihm passte. Dass er viel erreichte. Paul
wollte ihm einen Rat geben. Vielleicht sei ja die Distanz während der Freizeit
hilfreich. Es war ein Sichhineinversetzenwollen bei Paul, angelesenes Wissen.
Sollen wir weitergehen, Nomo, fragte Paul. Ja, lass uns unter Platanen ergehen,
stimmte ihm Nomo zu. So gingen sie die Treppe von der Brücke
auf die Plataneninsel hinunter. Nebeneinander. Beide waren groß, Paul war eher
hager, Nomo eher stämmig. Beide trugen das Haar kurz – das von Paul war braun,
das von Nomo blond – und beide trugen kleine runde Brillen. Paul, was macht
denn Dein Liebesleben, fragte Nomo. Mit fester Partnerschaft sei gerade nichts,
antwortete Paul etwas flapsig. Neulich, auf einer Reise in Berlin, habe er eine
kurze Affäre gehabt, die bereue er. Nomo versuchte ihn zu überzeugen, es sei ok,
wenn sich beide gut dabei gefühlt hätten. Da konnte Paul nicht ganz mitgehen.
Er hatte lange von der großen Liebe geträumt, einmal und für immer. Der
Abschied von dieser Vorstellung vollzog sich bei Paul in kleinen Raten. Er sah
allmählich ein, dass es einen unterschied zwischen Verliebtsein und Liebe gab,
dass es keine Gewissheit für eine stabile Partnerschaft geben könne. Und dass es
ein Begehren gab, welches nicht so einfach mit dem Verliebtsein
zusammenzubringen war, welches seine eigene Dynamik hatte. Dieser langsame
Abschied hatte allerdings kaum etwas an zwei wesentlichen Eigenschaften Pauls
ändern können: an seinem Hang zur Schwärmerei – die er sich ja auch bewahren
wollte. Und an seiner Scheu, seiner Angst. Beide waren eine Weile still gewesen.
Die Sonne war mit einigen Strahlen durch die Wolken gebrochen und spielte in den
gelblichen Blättern. Sie gingen über die nächste Brücke, überquerten den linken
Neckararm und liefen dann am Ufer flussaufwärts. Gedachten so mancher
Stocherkahnfahrt diesen Sommer. Nomo hielt an, stopfte sich seine Pfeife. Ein
Sonnenstrahl traf sein stets rötliches, gut durchblutetes Gesicht, glänzte in
den Haaren und den Bartstoppeln. Er zündete die Pfeife an, nahm den ersten Zug,
atmete langsam aus. Wenn er angespannt sei, erzählte er, ziehe er an der
Pfeife. Dann fühle er sich ganz frei. Frei. Zumindest für einen kurzen Moment.
Das kannte und schätzte Paul auch. Geschenktes Glück, nicht planbar, nicht
berechenbar. Nicht machbar. Lediglich gute Voraussetzungen dafür ließen sich schaffen.
Voraussetzungen wie Wachheit, Ruhe, fast gar Trägheit, Langsamkeit. In solch
freien Momenten war Paul geborgen. Die Grausamkeiten der großen weiten Welt und
seiner eigenen kleinen Welt, die ihn so sehr beschäftigten, sie spielten dann
keine Rolle mehr. So, wenn er hier ganz in der Nähe am Fluss saß, alleine auf
der Bank, die eigene Unruhe in die Ruhe des Flusses gleiten lassen konnte. Gelassene
Kraft aufnahm. Beide waren eine Weile still gewesen.
Nun lästerte Nomo über ein paar engstirnige Theologen. Imitierte sie. Wie sie
einem an allem die Freude verderben konnten. Paul fiel in das Imitieren ein. Wo
das noch hingehe „mit der Kerch, mit dera Gsellschaft. Die Leit henn jo gar kei
Orientierong meh ond glaubat, sia wüßtat älles besser.“ Mit Nomo konnte er so
schön lachen. Wie neulich, als er bei Paul übernachtete. Sie die halbe Nacht
redeten. Und lachten. Und über die Grausamkeit des Frühaufstehenmüssens
fluchten, weil Nomo auf den Zug musste. Auch jetzt verabschiedete sich Nomo; er
habe Theatergruppe. Sie umarmten sich. Paul ging weiter neckaraufwärts, die
Hände hinter der Hüfte verschränkt. Nomo wirbelte ihm durch den Kopf, stellte
so vieles in Frage. Ließ Paul nach seinem eigenen Weg fragen, der freilich
nicht der von Nomo sein konnte. Ließ ihn mehr Aufrichtigkeit, mehr richtig
verstandenen Egoismus, weniger Anbiederung wünschen. Weniger Anpassung an nur
vermeintlich bestehende Zwänge. Er war an der kleinen Bank angekommen, setzte
sich, sah den Schwänen zu, wie sie die grazilen Hälse in das gemächlich vorbeifließende
Flusswasser tunkten. Diesmal mochte sich die Ruhe nicht einstellen. Die Wolken
schoben sich wieder vor die Sonne. Und Paul verspürte nicht nur Wünsche, wie er
anders sein wollte. Er fühlte auch etwas anderes aufsteigen. Hass. Einen Hass auf
das viele Moralisieren. Darauf, die Messlatte zu hoch für sich und die meisten
anderen Menschen zu legen. Einen Hass auf den Rechtfertigungsdrang für sein
sämtliches Tun, der fast schon in ihm eingebrannt schien. Er hasste alle, die
diesen Drang für ihre Zwecke oder auch nur unbewusst förderten. Und er hasste
sich selber dafür, immer um Rechtfertigungen für sein gesamtes Tun bemüht zu
sein. . Er stand auf. Lief langsam zurück.
Voller Unruhe. Mit einer leisen Hoffnung, hinter den Regeln, hinter seinem Hass,
das zu finden, was er wirklich suchte, was ihm wirklich guttat, was er lieben
konnte.
Salabam
(1997) |